Essen ist ein Lebenselixier - neben körperlichen vermag es auch seelische Bedürfnisse zu befriedigen und spielt überdies eine grosse Rolle im familiären und gesellschaftlichen Leben: So trösten, verwöhnen oder belohnen wir uns mit Essen, auch sind familiäre oder gesellschaftlich verbundene Events meistens von Essen geprägt. In unserer industrialisierten Überflussgesellschaft und im Hinblick auf kulturelle Gebote lässt sich «normales Essen» schwer definieren.
Nahrungsüberfluss gilt als conditio sine qua non für das Auftreten einer Essstörung.
Wenn sich jemand gedanklich ständig mit dem Körpergewicht und Möglichkeiten, es zu reduzieren, beschäftigt, den eigenen Körper stark ablehnt und im Grunde genommen darunter leidet, so liegt eine Essstörung vor. Das übermässig auf Figur und Körpergewicht zentrierte Denken wird von der Betroffenen nicht als Problem gesehen. Sie versuchen damit eine eigene Welt zu schaffen, in der die erreichte Zielsetzung hinsichtlich der eigenen Figur und des eigenen Gewichts das Selbstgefühl stärken und dem Leben ein Ziel geben sollen.
Obwohl eine Essstörung weitreichende Konsequenzen mit sich bringt, verschafft sie den Betroffenen auch eine gewisse Art von Halt und Regelmässigkeit im Leben. Dabei werden feste Regeln und ein System kreiert, nach welchen Sie genau wissen, wann, wie viel und wovon gegessen wurde. Dies nimmt derart viel Raum ein, dass leidvolle Gedanken kaum Platz finden. Unbeschwertes Geniessen und gesunder Appetit sind kaum möglich, während Essen mit Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen verbunden ist, und etwaige aversive Emotionen vorübergehend zu betäuben vermag.
Essstörungen können sowohl als Reaktion auf wie auch als Kompensation von diversen Problemen und Emotionen aufgefasst werden, welche sich in den verschiedenen Verhaltensweisen der Essstörungen auf- und gleichwohl entladen. Dabei können Essstörungen eine fundamentale, existentielle Funktion einnehmen: Aspekte wie Nichtessen und Nahrungsverweigerung verleihen den Betroffenen ein bestimmtes Gefühl von Macht über diejenigen, welche sich allmählich sorgen. Zugleich erhöht sich ihr Selbstwert, da ihnen etwas gelingt, was andere nicht schaffen, nämlich die Kontrolle über den eigenen Körper bei gleichzeitig hervorragenden Leistungen.
Die Unzulänglichkeit, welche Betroffene spüren, wird immer mehr auf den Körper projiziert, dabei dient das Abnehmen dem Ausmerzen ebendieser Unzulänglichkeit. Eine Identifikation findet vorwiegend über den Körper statt, der nun Vormund über die Persönlichkeit wird, während das entmündigte «Ich» der Bewertung des Körpers komplett ausgeliefert ist.
Der Hass gegen den Körper löst einen Hass auf sich selbst aus. Dies facht die Unzulänglichkeit weiter an und führt zu weiteren Versuchen, den Körper auf ein nicht zu erreichendes, selbst gesetztes Ideal zu bringen. Dieses Ideal wird beim Erreichen modifiziert, da sich die damit verbundenen Hoffnungen und Sehnsüchte nicht erfüllen.
Letztlich immer auch ein Leben in Extremen: Ganz gut sein oder alles fallen lassen, Idealfigur oder auseinanderplatzen, ganz lieben und geliebt werden oder sich isolieren und umbringen - alles oder nichts. Dabei zeigt sich eine Spaltung des Ist und Soll: Die irdisch-physische Realität und das geistige Ideal beginnen scheinbar unabänderlich auseinanderzuklaffen. Die Welt sollte irgendwie sein, ist aber doch anders - die Kluft zwischen Erstrebtem und Erlebtem zementiert. Sinngebend und zugleich fühlt es sich innerlich an wie toter Plastik: Ein selbstmedikamentöses Selbstmonolog, ein Selbstgespräch, mit welchem Betroffene selbststrafend, selbstbemittleidend das Selbst verleugnen (Albonico).
Die übermässige Besorgnis um den eigenen Körper und dessen Umfang sowie die rigide Esskontrolle könnten späte Entwicklungssymptome darstellen, welche einen verzweifelten Kampf gegen das Gefühl, versklavt, ausgebeutet und nicht zur Selbstbestimmten Lebensführung in der Lage sein, führen. Eine Art blindwütige Identitäts-, Selbst- und Sinnsuche, bei welcher alles, was andere und die Umwelt anbieten abgelehnt wird. Dem zugrunde liegenden lähmenden Gefühls des Unvermögens, eine tiefgreifende Überzeugung, hilflos und unfähig zu sein, irgendetwas im Leben ändern zu können, resultierend im verbissenen Wunsch nach Kontrolle des Körpers.
Magersucht wird in erster Linie über die Weigerung der Betroffenen, ein minimales normales Körpergewicht zu halten bzw. zu erreichen, definiert. Damit einher gehen ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme trotz bestehenden Untergewichts, eine Wahrnehmungsstörung bezogen auf Figur und Gewicht bzw. die übermässige Bedeutsamkeit von diesen für das Selbstkonzept («wenn ich dünner bin als mein Gegenüber fühle ich mich grossartig») sowie eine Amenorrhoe (aufgrund verringerter Östrogenausschüttung). Die Anorexie wird u.a. durch eine Erhöhung des Selbstwerts, welche die Betroffenen durch die strenge Kontrolle über Körper und Essen erhalten, aufrechterhalten. Dadurch erleben sie sich als mächtig und unabhängig von der Familie; abmagern verschafft ihnen eine vordergründige Befriedigung.
Auffallendes Merkmal der Magersucht ist die extreme, durch strenges Hungern herbeigeführte Gewichtsabnahme; obwohl die Betroffenen quasi nurmehr aus Haut und Knochen bestehen, erleben sie sich noch immer als unakzeptabel dick. Um Vorwürfen und Kommentaren zu entgehen, verstecken sie ihren Körper oft in weiter Kleidung, kochen ausgiebig für andere und beschäftigen sich viel mit Rezepten, essen selbst tun sie jedoch nichts und täuschen das Essen vor.
Mitunter ist auch die Rede von einem Autonomiekonflikt: Magersüchtige haben oft ausgeprägte Reifungsängste, indessen eine Art Regression in die Kindheit, wobei vermieden wird, Verantwortung, Pflichten und Risiken des Erwachsenenlebens zu übernehmen. Betroffene können sich in der Arena des Essens oder Nichtessens und der gedanklichen Einengung auf übermässige Schlankheit ihre Kontrolle über sich selbst leichter beweisen, als für die Komplexität des Lebens.
Die Essstörung wird oft verleugnet, denn Betroffene sehen darin eher die Lösung ihrer Probleme, da die Krankheit ihnen Halt sowie Stärke gibt, darüber hinaus dient sie als Gradmesser ihrer Leistungsfähigkeit und damit ihrer Persönlichkeit.
Hauptmerkmale sind «objektiver Heisshunger-Fressanfälle» sowie verschiedene unangemessene Massnahmen der Kompensation zur Verhinderung einer Gewichtszunahme (z.B. Erbrechen, Diäten, Laxantienabusus sowie Duiretikaeinnahme, stark gezügeltes Essverhalten, Fasten oder übermässiges Sporttreiben). Ein Fressanfall wird definiert als der Verzehr einer Nahrungsmenge innerhalb eines bestimmten Zeitraums, wobei die Menge der gegessenen Nahrung eindeutig grösser sein muss als die Menge, die die meisten Menschen innerhalb des gleichen Zeitraums und unter vergleichbaren Umständen zu sich nehmen würden. Damit einher geht das Gefühl des Kontrollverlust, indem die Betroffenen meinen, mit dem Essen nicht mehr aufhören zu können oder die Art und Menge des Essens nicht mehr kontrollieren zu können. BulimikerInnen sind meist normalgewichtig, aber davon überzeugt, «zu dick» zu sein.
Gerade die Bulimie entwickelt sich häufig aus gezügeltem Essen: Das strenge Diät halten provoziert Essanfällen, welche kompensatorisch «reguliert» werden; es resultieren starke Scham- und Schuldgefühle, worauf wiederum versucht wird, die vermehrte Spannung und Unruhe durch Essen abzubauen - ein Teufelskreis beginnt.
Heisshungerattacken werden mitunter nicht als ein «Wegessen» von Gefühlen verstanden, sondern als eine Art Ventil für die lange aufgestaute Gier nach verbotenem Genuss, und auch als Mittel der vorübergehenden Betäubung von Frustrationen und Verletzungen (Gerlinghoff & Backmund, 2004).
Kennzeichnend sind wiederholte Essanfälle mit Erleben von Kontrollverlust (z.B. Gefühl, nicht aufhören zu können oder aber keine Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben) und Ohnmacht; da keine gegensteuernden Massnahmen zur Verhinderung einer Gewichtszunahme unternommen werden, entwickeln die meisten Übergewicht. Unkontrollierbar scheinendes Überessen findet aus Scham meistens heimlich alleine statt, es wird schneller als normal gegessen (schlingen) bis zu einem unangenehmen Völlegefühl, mitunter werden exzessive Nahrungsmengen reingestopft, obwohl man sich körperlich nicht hungrig fühlt. Betroffene leiden deutlich unter den Fressanfällen, sie ekeln sich vor sich selbst, sind niedergeschlagen und haben Schuldgefühle.
Auslöser für übermässiges Essen sind vielzählig – z.B. Ersatz für unerfüllte Bedürfnisse oder dysfunktionale Strategie zum Umgang mit unangenehmen Stimmungen, Konflikten sowie innerer Anspannung, allgemein Impulsivität in Verbindung mit erhöhtem Belohnungsbedürfnis insbesondere für Nahrungsmittel und der Reiz attraktiver Nahrungsmittel oder Heisshunger nach Phasen kontrolliertem Essen/Diät. Während des Überessens wird das Belohnungszentrum im Gehirn stimuliert, dabei weicht das Unangenehme zugunsten eines angenehmen Zustandes oder von Gleichgültigkeitsgefühlen.